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Bruegel und Mani Matter

The Virtual Pieter Bruegel Theme Park I
Bruegel und Mani Matter


(Bild: youtube.com)


Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle (Brüssel)

Der Scharfblick der Liebe

Mindestens 127 Versionen sind aktenkundig, von Bruegels Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle. Die dennoch eher zu den Stiefkindern der Bruegel-Forschung gehört. Und in Sachen Popularität der Heimkehr der Jäger sicherlich nicht im Entferntesten den Rang ablaufen kann.
Und einzigartig ist diese Bildfindung doch.
Und zwar deshalb, weil sich daran ein welthistorisch vielleicht einzigartiger Vorgang knüpft.
Weil der Schweizer Liedermacher (Chansonnier) Mani Matter zu Beginn des Jahres 1960, nachdem er eben die Frau, mit der er später die Ehe eingehen sollte, in einer Grindelwalder Bar zum Tanz aufgefordert hatte, auf dieses Bruegel-Bild zu sprechen kam, und der Einstieg in das gemeinsame Gesprächs der beiden Partner (ein Gespräch, das später, durch den Unfalltod Matters im Jahre 1972 bedingt, so jäh abreissen sollte), über dieses Bild gelang.
Weil also die Liebesgeschichte eines Paars, das sich von Bern her schon flüchtig kannte, durch dieses Bild hindurchführt. Ein Bild, das Matter, derweil er mit Joy Doebeli tanzte, eindrücklich zu beschreiben wusste. Und, wie sich Joy Matter erinnern sollte, ›jeder belanglose Smalltalk übersprungen werden konnte‹. Soll heissen: Ein wechselseitiges, ernsthaftes und tiefergehendes Interesse stellte sich ein.


(Bild: grindelwaldgeschichten.ch)


(Bild: jungfrauzeitung.ch)

Wer sich auf einen Vergleich der 127 Versionen (und ihrer geringfügigen Unterschiede) einliesse, würde sicherlich ›Winter‹ anders wahrnehmen als je zuvor. Geschult würde sein oder ihr Blick, in der Unterscheidung der farbigen Grautöne, in denen bald der eine, bald der andere Farbton das Übergewicht gewinnt, und gegen das prächtig strahlende Weiss des Schnees sich abhebt. Vielleicht erlaubt ein Werk von Bruegel auch ein solches Exerzitium des Sehens. Aber interessant wäre auch die Frage, ob ein Bild von Bruegel Smalltalk erlaubt, schlicht und einfach: Smalltalk duldet (aber wir denken uns ein Bild von Bruegel als durchaus tolerant).

Kurz: Wer sich auf eine genaue Beschreibung eines Bilds von Bruegel einlässt, beginnt nicht nur ein Gespräch über Gott und die Welt (zumindest insofern eine solche Beschreibung an ein Gegenüber adressiert ist), sondern gibt unwillkürlich, wie wir vermuten, auch einen ziemlich genauen Einblick in, eine ziemlich genaue Beschreibung von sich selbst. Und es geht hier keineswegs darum, darüber zu mutmassen, wie der so scharfsinnige wie sensible Matter das Bild beschrieben haben mag. Nein, um ein nachträgliches Eindringen in diese private Sphäre geht es hier keinesfalls.



Bezugspunkt dreier Schweizer Dichter:
Ludwig Hohl (Bild oben)
spricht in seinen Notizen vom Träumen
›in‹ Landschaften von Bruegel, und Robert Walser
widmete dem Maler ein
in den Mikrogrammen von 1926-1927
verborgenes sarkastisches Reimgebilde

(Bild oben: nzz.ch; unten: literaturhaus-berlin.de)


Aber doch um die Frage, was einer genauen Betrachtung vorausliegt (nämlich erst Interesse, dann vielleicht Faszination, gefolgt von Liebe und nicht zuletzt Passion). Wer ein Bild eindrücklich zu beschreiben vermag, und zeigt, dass es es sehr genau kennt, der spricht indirekt von der Liebe (spricht seine Liebe?), die sein Sehen schon geleitet hat. Und zeigt zugleich sich, in grösster Privatheit, nämlich in seinem inneren Leben, Denken und Empfinden. In seinen Fragen (an Gott und die Welt), und vielleicht auch: in seinem Witz.
Und dies vielleicht nun auch im Moment der Annäherung an einen anderen Menschen, also in einem Moment, in dem Scheu im Weg stehen, Scheu auch zu überwinden sein mag, und es von Vorteil sein kann, ein Bild zu evozieren, d.h. vom Hier und Jetzt ein wenig abzusehen, abzulenken, die gemeinsame Aufmerksamkeit nicht auf einander, sondern auf ein imaginiertes Bild zu lenken, das dann doch für sich stehen und zu faszinieren vermag, und zu einem ›einander sehen‹ sanft plädiert.

Der Scharfblick der Liebe, um es auf eine Formel zu bringen (die von deutschen Tolstoi-Übersetzern stammt), ist hier gleich mehrfach im Spiel. Der Liebe zu einem Bild (oder einem Werk), die zum Kennen, zur Kenntnis (und für einmal nicht um das ›Erkennen‹) führt. Der Liebe, die von sich gar nicht spricht, und dennoch sieht (und zeigt), und indem sie zeigt (sich zeigt?), dem Blick des anderen/der anderen begegnet. Mit Empathie begegnet.

Tolstoi hat (in Anna Karenina) das Eislaufen als eine Szenerie gewählt, in der sich die Liebe Ljewins zu Kitty scheu-verletzlich exponiert. Mani Matter wählte, in jener Grindewalder Bar und in einer imponierenden Mischung aus Kühnheit und Scheu, eine wahrlich imponierende Strategie: beim Tanz ein Bild von Bruegel zu beschreiben. Ein Bild mit Eisläufern und Vogelfalle. Sich exponierend, und doch (wie wir vermuten), eben Sensibilität, Scharfsinn und Liebe verratend. Und vielleicht auch ein wenig Leichtsinn, Lebenshunger.

Wahrlich: eine Art, sich einem Gemälde von Bruegel zu nähern. Wahrlich: eine Art, ein Bild von Bruegel zu beschreiben.

The Virtual Pieter Bruegel Theme Park


Sehr empfehlenswert: die atmosphärisch-eindringliche
und formal überzeugend eigensinnige Matter-Biographie von Wilfried Meichtry
(für Bruegel siehe S. 137ff.; für Matter und die bildende Kunst
bzw. Kunst im Museum siehe insbesondere auch S. 187ff. und S. 151ff.)

(Bild: hanser-literaturverlage.de)

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Zuletzt geändert am 17 Oktober 2015 19:51 Uhr
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