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An Expertise by Bayersdorfer

The Virtual Museum
of Art Expertise –
An Expertise by Bayersdorfer


Adolph Bayersdorfer (1842-1901)


Explaining a Collective Expertise or An Expertise by Adolph Bayersdorfer

Art historians and connoisseurs of art do not, as one does know, belong to one and the same tribe. The famous Holbein-Streit ranks among the key episodes of any ›history of art history as a discipline‹-narrative. Art history as a discipline shaped its identity, as everybody seems to know, due to, allegedly, being able to decide, upon scientific standards, over a tricky questions of attribution. In the famous Holbein-Streit over two versions of a Holbein madonna picture.
So far, so good. What usually remains unsaid is that a) after that, that is: in the aftermath of the Holbeein-Streit, art history as a discipline tended to marginalize any thinking about attributional questions within the discipline and failed to institutionalize a scientific culture of connoisseurship within the academia (while still professors of art history think of themselves as being able to act as connoisseurs if needed); and b) that the Holbein-Streit was settled by connoisseurs and not by academic art historians.
Adolph Bayersdorfer (1842-1901) can be counted among the key figures in the Holbein-Streit. He, a man of the museum and not of the academia, explained, in a brochure we are republishing here, why experts had readed a (more or less stable) consensus in the Holbein-Streit. Thus, we are giving a foundational text here, which, sadly, never got translated in any other language.
And there is still another reason why we are giving that relatively long text here: in it the actual argument of how to tell copy from original is laid out. If one does agree or not (Jacob Burckhardt, for example, did not really care), if one does care about actual reasons, about actual attributional questions (or its general implications), and if one does care about making up one’s mind for oneself, this is it: an expertise by Bayersdorfer, or: a collectice expertise, penned down by the rather little known connoisseur. Who did not publish much, but was much appreciated and admired at his day.

[…] [p. 16] »Nach den hier gegebenen Ausführungen nun ist trotz aller Wahrscheinlichkeitsgründe (von kennerschaftlichen Nachweisen abgesehen) mit einer rein geschichtlichen Klarlegung nicht direct zu beweisen, dass gerade das Darmstädter und nicht das Dresdener Bild aus Basel nach den Niederlanden gewandert sei. Früher wähnte man die Kette zu Gunsten des Darmstädter Bildes schliessen zu können, indem man den holländischen Auctionscatalog nur aus dem Nachdrucke bei Hoet kannte und den Buchhalter Lössert unbegründeter Weise in einem Loskart, dessen Bilder zugleich mit den Cromhout’schen versteigert [p. 17] wurden, wiederzufinden glaubte. Durch einen Brief van der Willigens, der den Originalcatalog besitzt, an Dr. A. v. Zahn in Dresden wurde dieser Irrthum berichtigt. Das Bild gehörte Cromhout, und die wenigen Bilder eines Loskart, welche mitversteigert wurden, sind nur ein Anhängsel.

[on pentimenti]





So wäre man nun mit all den schönen geschichtlichen Ermittelungen auf dem Standpunkte, dass man einem hartnäckigen Laien und Verehrer des Dresdener Bildes, der nicht im Stande wäre, sich aus rein artistischen Qualitäten die wirklich schlagenden Gründe für die Originalität des Darmstädter Bildes und dessen Herkunft aus Basel herauszulesen, nichts beweisen könnte, wenn nicht das Original selbst durch untrügliche, von aller Kennerschaft unabhängige Zeichen seine Originalität dargethan und so sein schwer bestreitbares Recht auf die ganze Abstammungsgeschichte geltend gemacht hätte. In Basel befinden sich nämlich heute noch drei Kopfstudien von Holbein’s Hand zu diesem viellberufenen Bilde. Zwei derselben zeigen aber einige Abweichungen von der Ausführung im Gemälde: Das Mädchen hat in dem gezeichneten Entwurfe hängende, im Gemälde aufgebundenen Haare; die Mutter hat in der Zeichnung die beliebte Kinnbinde aufgezogen, im Gemälde ist dieselbe fallen gelassen. Vielleicht hat weibliche Eitelkeit diese Correctur verlangt; jedenfalls geschah die Aenderung erst, nachdem das Bild in seiner Entstehung schon ziemlich vorgeschritten war; denn die durchscheinenden Ansätze des früheren Entwurfes befinden sich deutlich erkennbar auf dem Darmstädter Bilde. [note: Die Entdeckung des ersten dieser beiden wichtigen Pentimenti wurde von His-Heusler auf der Münchener Ausstellung gemacht. Sie bildete den ersten, von aller Kennerschaft unabhängigen positiven Beweis für die Priorität des Bildes. Wer das zweite Pentiment gefunden, weiss ich nicht. Mir wurde es zuerst durch v. Zahn auf der Holbein-Ausstellung gezeigt.] So gehört nach menschlichem Ermessen ihm die ganze weitläufige Abstammungsgeschichte an. Für die Annahme, dass das Dresdener Exemplar zugleich mit jenem oder überhaupt jemals in Basel war und von dort aus in fremden Besitz überging, bleibt vorderhand nicht der Schatten eines Beweises. Es lässt sich von ihm, dessen Entstehung noch unklar ist, nur Das behaupten, dass es wahrscheinlich gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts in Belgien und Anfangs des 18. in Venedig war, von da ab man seine Geschichte kennt. Somit wäre also die Originalität und Priorität des Darmstädter Bildes auch ohne artistische [p. 18] Analysen und Ausführungen, die das kunstliebende Publikum gewöhnlich doch nicht versteht und deshalb auch von sich weisen kann, durch die geschichtliche Forschung wahrscheinlich gemacht und mit Hülfe der Baseler Handzeichnungen positiv zu begründen.

Dadurch ist nun aber die immerhin noch mögliche Originalität des Dresdener Bildes nicht ausgeschlossen. Eine genaue Vergleichung der beiden Bilder unter sich und mit anderen authentischen Werken Holbeins soll uns jetzt in dem folgenden und wichtigeren Theile unserer Untersuchung hierüber genügenden Aufschluss geben.

[now comparing, because also the Dresden picture might be (another) original]

Die geistige Individualität grosser Künstler drückt sich in ihren Werken in einer viel umfänglicheren Weise, in viel complicirterer Gliederung aus, als man gemeiniglich glaubt, als selbst die kunstgeschichtliche Forschung bis vor kaum zwei Jahrzehnten zu beobachten und in ihren Analysen zu verwerthen gelernt hatte. Wie in der Conception im Grossen, so spiegelt sich auch in der technischen Behandlung im Kleinen und Kleinsten die besondere Natur des Künstlers wider und zeigt uns unter dem Scheine der blossen mechanischen Handtirung den unbewussten Zwang einer besonderen, von einem intelligenten Willenscentrum ausgehenden, Naturbetrachtung. Man hat also in der Technik eines Künstlers nicht eine zufällige, imitirbare Formalistik und rein äusserliche Gewohnheit zu erblicken, sondern ein continuirliches Informtreten geistiger Vorgänge. Sie entstehen aus dem Bestreben, die Darstellung künstlerisch zu verdeutlichen und mit Leben zu begaben, vom ersten Entwurfe angefangen bis herab zur vollendenden Lasur. Die feinsten, complicirtesten, oft unbewussten Regungen der Künstlerseele, wie sie im Contact mit Gegenstand und Material entstehen, werden in der Technik reflectirt. Im flüchtigsten wie im intimsten Vortrage drückt sich demnach ein Lebensgehalt aus, der von der einen individuellen Künstlernatur bedingt und beherrscht ist, uns dieselbe scharf begränzen hilft und das beste Erkennungsmittel für dieselbe bleibt. Aus der exacten Feststellung der technischen Methode grosser Künstler und ganzer Schulen gestaltete sich der vorzüglichste und fast einzig untrügliche Factor der modernen Gemäldekenntniss. Sie allein lehrte uns, Imitationen, Copien, Schularbeiten, mit denen unsere öffentlichen Galerien immer noch prunken, von den originalen Arbeiten der Meister zu unterscheiden und die bewundernswerthen Qualitäten der letzteren erst recht zu würdigen. Man hat mit der Zeit nicht nur den geistigen Ideenkreis epochemachender Meister genau bestimmt, die Art ihrer [p. 19] Naturerfassung, ihres Compositions- und Farbengeschmacks, sondern man ist auch auf ihre Eigenthümlichkeiten der Formgebung, des Colorits, der Lichtbenutzung eingegangen, auf ihre vielfach bedingte Vortragsweise und auf die Vorbehandlung des Materials. Gegenwärtig ist die kunstgeschichtliche Kenntniss der Farbmittel und ihrer Anwendung nach zeitlicher und örtlicher Verschiedenheit in fortschreitender Ausbildung begriffen.

Die Kunstforschung hatte sich im letzten Jahrzehnt besonders viel mit Holbein beschäftigt, hatte sich von dem hemmenden Traditionswust nach und nach mühevoll losgemacht und war an der Hand weniger beglaubigter Werke allmälich zu einer klaren analytischen Erkenntniss Holbein’scher Artistik gekommen, welche durch die Dresdener Ausstellung einen vorläufigen Abschluss gefunden hat. [note: Eine ganz treffliche, kurze Charakteristik Holbein’scher Technik hat Dr. v. Zahn in seiner Schrift: Zur Holbeinfrage; Leipzig 1871, gegeben, auf welche ich hier verweise und die ich nur desshalb nicht wiederhole, weil sich ihr belehrender Werth für den Leser nur vor den Bildern selbst, nicht vor Nachbildungen erproben lässt.] Wenn man also zu einer Vergleichung der beiden Bilder schritt, so hatte man feststehende Erkenntnissmittel und relative Anhaltspunkte genug, um eines positiven, nicht trügerischen Resultates sicher sein zu können. Ein gewisser, ja hoher, Grad von wissenschaftlicher Exactheit darf also den dort einmüthig gezogenen Schlussfolgerungen nicht abgesprochen werden, am wenigsten von Laien in der Kunstwissenschaft, wie es die opponirenden Dresdener Maler sind.

Sehen wir nun die Bilder selber an und constatiren vor Allem ihren Zustand, damit wir bei der Vergleichung den nöthigen Abzug aller im Laufe der Zeit entstandenen Störungen und Abweichungen von der ursprünglichen Intention machen können.

Das Dresdener Bild ist mustergültig erhalten.

Das Darmstädter Bild ist mit einem dicken vergilbten, jedoch klaren Firniss überdeckt, der ihm einen übermässig warmen Ton verleiht, die einzelnen Farben unter ihre eigentliche Wirklung zurücktreibt und sie in ihrer Zusammenstimmung jetzt verwandter erscheinen lässt, als ursprünglich der Fall war. [note: Es wäre an der Zeit und läge im Interesse der Kunst und Kunstforschung sowie im Interesse der Erhaltung des Originals, wenn die hohe Besitzerin desselben sich endlich entschliessen könnte, den Firniss, der in nicht zu ferner Zeit der Ruin des Bildes sein wird, wenigstens theilweise abnehmen zu lassen. Die technische Restaurationsfrage liegt so einfach, als es bei einem Bilde dieses Alters, möglich ist, und an eine Gefahr für das gesund gemalte, gewiss auch unter den Retouchen noch mit verhältnissmässig solider Farbentextur versehene Bild ist bei einem geschickten Restaurator nicht zu denken. Hofmaler Hauser in Bamberg, Conservator des dortigen Museums, A. Sesar in Augsburg, Jacob Acht in Wien, welche alle das Bild schon untersucht haben, und wenn die Propheten im eigenen Lande nichts gelten sollten, Leroy in Brüssel, sind Restauratoren, denen man die Arbeit mit grösster Ruhe anvertrauen kann. Zudem würde die ganze, in einigen Tagen zu beendigende Procedur in Darmstadt an dem Galerie-Inspector Hofmann einen mit seltenem Kunstverständniss und gründlicher Kenntniss solcher Arbeiten ausgestatteten Leiter, der nicht die kleinste Verletzung des Bildes dulden würde, und ausser ihm noch an Professor Felsing eine vorsorgliche Ueberwachung finden. Vielleicht würde auch ein oder der andere Kunstforscher der interessanten Operation beiwohnen. Nach Abnahme des Firnisses wird sich das Bild in einem verhältnissmässig kühlen Tone darstellen, und es ist nicht unmöglich, dass man es dann mit ebensoviel Wahrscheinlichkeit, als man es jetzt vor Holbeins Abreise nach England entstanden wähnt, als nach seiner Rückkehr von dort gemalt betrachtet, wenn nicht die gedrungenen Proportionen dieser Annahme zu sehr widersprechen.] Dieser die coloristische Wirkung [p. 20] nivellirende Firniss war die Ursache, dass man die schwer ersichtlichen, nur dem geübten Kennerauge bemerklichen Retouchen in den Fleischpartien, über welche die Ansichten lange getheilt waren, nach Beschaffenheit und Umfang erst auf der Holbein-Ausstellung vollständig erkennen lernte. [note: Retouchen und Firniss sind nach allen Indicien schwerlich über 100 Jahre alt. Herr Dr. C. L. stellt auf, dass Le Blond und Lössert nur ein unverdorbenes Bild gekauft haben könnten und dass dieses somit das Dresdener gewesen sein müsse. Einfacher Beweis! Wer sagt ihm denn, dass das Darmstädter Bild 1633 und 1645 schon verletzt gewesen sei? Ach ja, es ist ja beim Baseler Kirchenstreit verdorben worden! – –] Soweit der dicke Firniss eine Diagnose zulässt, scheint den partiellen Uebermalungen der Fleischpartien keine wesentliche Verputzung vorausgegangen zu sein. Sie sehen in der Hauptsache aus, wie das müssige Exercitium eines Restaurators, der in den Kinderfiguren, Köpfen und Händen die Schattentheile mit Umgehung der Lichten durch hier und da angebrachte bräunliche Lasuren verstärkt hat, so dass die Farbe schwerer, die Form weniger klar erscheint, und auch der Contour an einzelnen Stellen, wie Lippen, Nasen und Augen von seiner ursprünglichen Schärfe eingebüsst hat. Ausserdem hat er, und das ist die bedenklichere Hälfte seiner Leistung, die Köpfe der Madonna und des Bürgermeisters, ferner den Oberkörper und vor Allem den Kopf des [p. 21] Christkindes bis an die Haare mit schwer erklärbaren Retouchen versehen, wodurch er namentlich im Kopfe der Madonna und des Kindes den Ausdruck wesentlich und gewiss nicht unfreiwillig verändert hat. Unter diesen Uebermalungen sind die Pentimenti der Originalanlage (besonders am Halse der Madonna und am Munde des Kindes noch erkennbar und beweisen durch ihre Uebereinstimmung mit der Zeichnung des Dresdener Bildes, dass uns in diesem die wichtige Copie des früheren Zustandes dieser Theile erhalten ist und dass diese Copie für die Form dieser drei Köpfe und einiger minder wesentlicher Theile gegenwärtig als das Correctiv des Originals gelten muss.

Dass die vorausgegangene Verputzung nur eine unwesentliche gewesen sei, lässt sich jetzt nicht mit absoluter Bestimmtheit feststellen, wird aber dadurch wahrscheinlich gemacht, dass einzelne Fleischtheile, wie die Füsschen des Christkindes, ganz, die Hände der Madonna fast ganz unberührt geblieben sind, dass an anderen Theilen, wie in dem Kopfe der Frau, die braunen Verstärkungen sicher nicht auf verputzter Fläche sitzen, dass ferner die Lichten, die freilich auch vom Lösemittel weniger angegriffen werden, meistentheils ganz erhalten sind, und dass schliesslich unter vollständig gedeckten Stellen noch die Pentimenti der ersten Form plastisch sichtbar erscheinen. Es ist nicht zu bezweifeln, dass eine Aenderung der Zeichnung bei zwei Köpfen aus einer bestimmten (uns unbekannten) Absicht stattgefunden hat und dass der Restaurator desswegen einzelne Stellen derstelben stark gedeckt hat. Dieser Umstand schlösse wenigstens die Nothwendigkeit einer Verputzung aus. Ein partieller Restaurationsversuch wäre hier im Interesse der möglichen Reinheit des Bildes sehr erwünscht.

Ueber die Pentimenti (auch an der Nase des knienden Mädchens zeigt, wie ich schon einmal erwähnt habe, ein solches die ursprüngliche Uebereinstimmung mit der Basler Zeichnung) siehe v. Zahn a.a.O. Sie beweisen klar, dass auch die Darmstädter Madonna unter der Uebermalung noch ihr kleines Doppelkinn und das Kind einen nicht lächelnden Mund, sondern nach Unten gezogene Mundwinkel besitzt. Es fallen somit die auf den Unterschied des Ausdrucks beider Kinder und auf die vermeintliche [p. 22] Alterdsdifferenz in den Köpfen gegründete Entstehungs- und Deutungshypothesenn in sich zusammen.

Sieht man von den geschilderten partiellen Uebermalungen der Fleischtheile ab, so findet man die weitaus grössere Hälfte der Bildfläche, alle Gewandung, die Architectur und jegliches Beiwerk vollständig unberührt und in mustergültiger Erhaltung ganz im Schmelze der unnachahmlichen Malerei Holbeins prangend. Diese erhaltenen Theile, deren malerische Wirkung niemals durch eine fremde Hand gestört wurden, müssen bei einer Vergleichung mit dem ganz erhaltenen Dresdener Bilde die unantastbare Basis bilden.

[on quality in general]

Die Untersuchung ergibt nun als erstes in die Augen springendes Resultat, dass die Qualität der malerischen Behandlung auf dem Dresdener Bilde gleichmässig durch alle Theile hindurch im Grossen, Kleinen und Kleinsten eine geringere, künstlerisch weniger hochstehende, ist als die des Darmstädter Bildes. Die Farbe auf dem Dresdener Bilde ist ungleich schwerer als auf dem Original, ist minder deutlich in ihren Intervallen, welche durchweg (zumal bei der schwarzen Gewandmusterung) weniger klar und bestimmt abheben. Die Formgebung erreicht ebensowenig die Feinheit und Präcision des Originals; es fehlt zu derselben der feine, reinlich scharfe Strich der begränzenden Linie, die zierliche Eleganz des Gefältes etc. Auch das geringere Geschick, die geringere Freiheit und Sicherheit der Handführung kommt an vielen Stellen, besonders in den schwarzen Stickereien auf dem weissen Aermel des Mädchens, zu Tage, welche nicht flüchtiger, wie man behaupten wollte, sondern langsamer, mühevoller und minder frei aufgezeichnet sind. Vor Allem aber zeigt die technische Behandlung des Teppichs auf dem Dresdener eine sehr gewöhnliche, auf dem Darmstädter Bilde eine ungewöhnlich geistvolle Imitation. In summa spricht sich, trotz aller anerkannten Trefflichkeit in jedem wesentlichen oder unwesentlichen Theile in gleichmässigem Abstande ein geringerer Lebensfond und nicht der hohe Grad der Vergeistigung alles Gegenständlichen wie in dem Holbein’schen Werke aus.

Die Qualität der malerischen Behandlung ist aber nicht nur eine künstlerisch geringere, sondern auch gleichmässig durch das ganze Bild hindurch eine wesentlich andere, einem späteren Zeitalter und einer anderen Kunstrichtung angehörige, wie sie weder Holbein noch jemals ein anderer oberdeutscher Künstler noch überhaupt ein Künstler diesseits der Alpen im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts geübt hat und geübt haben konnte.

[p. 23] Ein minder steifes, weniger harzreiches, oelhaltigeres Bindemittel, das den späteren Schulen eigen ist und das auch in unserer Copie zur Anwendung kam, gestattete ihrem Autor weder den scharfen Contour noch das prägnante Neben- und Aufeinander der klar unterschiedenen Farben des Originals. Die Copie kann also weder die lineare Bestimmtheit der Zeichnung noch die ungebrochene Wirkung und optische Isolirbarkeit jeder im Farbenensemble thätigen Einzelfarbe erreichen. Holbein führt seine Bilder in allen Theilen, Haupt- und Nebensachen, Vorder- und Hintergründen in einheitlichem Tractamente, wobei er nur die verschiedenen Farben je nach ihrer substanziellen Beschaffenheit in verschiedener Stärke aufträgt, und in ganz gleichmässiger Vollendung und Durcharbeitung aller Formen aus. Die festgeschlossene Farboberfläche bedeckt in einheitlicher solider Textur wie leuchtender Schmelzguss die Tafel. Hievon gründlich verschieden ist die Impastirung auf dem Dresdener Bilde, welche einer anderen, Holbein gänzlich fremden, Handtirung angehört, welche lockerer, die Pinselführung weniger verdeckend und dabei für verschiedene Theile des Bildes je nach Massgabe der Wichtigkeit des Objects ungleich ist. –

[the differences in modelling]


On the left always the ›Darmstadtmadonna‹, on the right the ›Dresdenkopie‹ (note also the differences as to the shape of the child’s ear)

Das entscheidende Moment aber für die Beweisführung liegt in dem grossen Unterschiede der Art der Modellirung auf beiden Bildern. – Holbein erzielt, wie die gleichzeitigen deutschen und die alten niderländischen Meister, seine Modellirung durch einfache Abtönung je der erkannten Localfarbe in ihre dunkleren Nuancen bei bräunlichem oder grauem Grundtone der Schatten. Sein Verfahren ist für jede Farbe, die durch sein Bild bedingt wird, immer von Neuem das des Zeichners, der sein Werk in einem Tone ausarbeitet und durch dessen vielfache Modification verdeutlicht. Und Holbein ist ein Meister dieser Methode. Die complicirtesten Flächenstellungen, die feinsten Abstufungen des Lichts und Dunkels bringt er zur entschiedensten Wirkung, ohne sich etwa eines scharf bestimmenden Schlaglichts und tiefer Schattentöne zu bedienen. Von der »coloristischen Illusion«, von der Möglichkeit, den plastischen und perspectivischen Eindruck einer Erscheinung durch das Nebeneinander differirender Farbenwerthe, welche nicht als blosse Abstufungen der zutreffenden Localtöne erscheinen, auszudrücken, hat Holbein noch keine Ahnung. Er weiss nicht und kann noch nicht wissen, dass es möglich ist, den Localwerth der Farben durch contrastirende Töne für das betrachtende Auge aufzuheben und zu neuer Wirkung im Ensemble umzugestalten. Sein Auge konnte [p. 24] sich, so wenig wie das seiner Zeit- und Kunstgenossen, nicht emancipiren von der Empirie des leitenden Verstandes, der ihn Dinge, die er als einfärbige erkannt hatte, auch einfärbig sehen liess. Durch sein ganzes Leben gelangt er, wie seine Bilder beweisen, nicht zur Entdeckung des modernen coloristischen Princips, und die Kunstgeschichte lehrt uns, dass dasselbe überhaupt erst einer künftigen Generation angehört. – Der Maler der Dresdener Copie dagegen ist schon wohlvertraut mit der durch die Italiäner eingeführten Technik der Contrastmalerei. Er hat eine ganz anders ausgestattete, auf ein anderes Combiniren der Farbe eingerichtete Palette als Holbein, und so ängstlich er sich auch an das Original zu halten sucht, so kann er sich doch nicht emancipiren von seiner Schule und weiss er die Modellirung der Köpfe, der Hände, der nackten Körper nicht anders zu bewerkstelligen, als durch Anwendung kalter, grünlicher Mitteltöne in den Uebergängen, durch bräunliche Schatten und schüchtern angebrachte warme Reflexe. Zu diesem schlagenen Argumente für eine fremde und spätere Urheberschaft kommt noch, dass neben dem schon erwähnten Bindemittel auch die auf der Copie verwendeten Farbmittel als blosse Droguen andere sind, als wie sie deutschen Meistern gewöhnlich zur Verfügung standen, dass weder das Schwarz noch das Grün [note: Auf dem Darmstädter Bild trägt die Madonna ein blaues, auf dem Dresdener ein grünes Gewand, die einzige Abweichung, welche sich der Copist in Bezug auf die Färbung erlaubt hat. Ein grünes Madonnenkleid steht mit dem ikonographischen Usus der mittelalterlichen und angehenden Renaissancekunst in Widerspruch und liesse sich auch auf Entstehung in späterer Zeit deuten, wenn weitere Argumente hiefür noch nöthig wären. – Dass das Grün absichtlich so dunkel gehalten sei, kann ich nicht mit v. Zahn (a.a.O.) annehmen. Was ganz schwarz aussehen soll, wird man wohl auch schwarz malen. Die wenigen Stellen, wo das Grün annähernd als Localfarbe auftritt, zeigen in den Uebergängen in dem modulationslosen tieferen Ton ein Lichtverhältniss, wie es eher mechanisch entstanden, als beabsichtigt sein dürfte. Dieser Erscheinung liegt doch wohl zum Theil eine Degeneration der benutzten Mischungsfarbe zu Grunde.] der Copie auf gleichzeitigen deutschen Bildern vorkommt und seine häufigen und regelmässig wiederkehrenden Parallelen nur in niederländischen Bildern späterer Abkunft findet. –

Man hat oft die billige Frage aufwerfen hören: warum sollte Holbein nicht auch einmal anders gemalt haben, als er sonst gewohnt war. Gewiss, bei vielen Malern, besonders solchen, die sich stets neue technische Probleme zu lösen geben oder sich nicht jedem Vorwurfe [p. 25] mit gleicher Liebe und Gewissenhaftigkeit zuwenden, lassen sich bedeutende Abweichungen in der Behandlung ihrer Gemälde constatiren; aber immer nur innerhalb der zwingenden Grenzen ihrer künstlerischen Eigenart, soferne sie überhaupt wirklich schöpferische Künstler und nicht bewusste Imitatoren sind, denen eine besondere künstlerische Individualität nicht zukommt. Keiner kann den Punkt ausser sich selbst finden, von wo aus er seine Natur aus den Angeln heben und sich durch eine räthselhafte Metamorphose zu einem anderen Menschen machen kann. – In unserem Falle aber müsste Holbein ein vollständig Anderer geworden sein, als er war; er müsste sich nicht nur absichtlich seiner technischen Methode, vor Allem seiner Impastirung, sondern auch eines grossen Theils seines Könnens begeben, seine Geschicklichkeit und Sicherheit der Handführung verleugnet, alle die kleinen, unnachahmlichen Vortheile und Eigenthümlichkeiten seiner Technik verheimlicht und durch schwerfälligere oder weitschweifigere ersetzt haben. Ja, er müsste mit einem, seiner Erfahrung fremden und ungewohnten, Bindemittel, zum Theil mit Farben, deren chemische Beschaffenheit ihm noch unbekannt, und zuletzt sogar nach einem coloristischen Princip gearbeitet haben, welches diesseits der Alpen erst ein halbes Jahrhundert später herrschend wird.

Nach den gemachten Untersuchungen und Erfahrungen, welche zu leugnen freilich dem Laien jederzeit frei steht, weil sie ausserhalb seiner Einsicht liegen, kann die Autorschaft Holbeins für das Dresdener Bild auch nicht in eingeschränktester Form oder als blosse Möglichkeit aufrecht erhalten werden. [note: Jansen und Dr. C. L. nehmen willkürlich an, dass das Gemälde bei den religiösen Wirren in Basel verschwunden und dann von Holbein auf den Wunsch der Besteller ohne directe Vorlage des Originals wiederholt worden und dass auf diese Weise das Dresdener Bild entstanden sei. Betrachtet man irgend einen Theil des Gemäldes (z.B. das Gewand des knieenden Knaben) und vergleicht ihn auf beiden Bildern, so kommt man zu dem Schlusse, dass nach dieser Annnahme Holbein im Stande gewesen sein müsste, aus dem Gedächtnisse irgend einen concreten Farbenton nach drei Jahren wieder zu treffen und nicht den geringsten Tonunterschied auf einer unendlichen Farbenscala in Nachbildung eines nicht mehr vorhandenen Originals zu verfehlen. Gegen solche Ansichten bracht man wohl keine dialectischen Anstrengungen zu machen.] In wenigen Jahren wird sich das grosse Publikum zu der aufgestellten Wahrheit nicht mehr skeptisch verhalten; diese beherrschende und überwindende Kraft gegenüber [p. 26] veralteten Vorurtheilen und Lieblingsideen hat alle wahre Wissenschaft noch immer bewährt. – –

Die Frage nach dem Autor der Copie bleibt einstweilen noch unerledigt. Obwohl es möglich ist, aus ihren artistischen Eigenschaften fast mit Gewissheit Zeit und Schule zu bestimmen, welche sie entstehen sahen, so ist es doch schwer, unter den vielen geschickten Malern der eruierten Kunstepoche denjenigen zu finden, der mit so viel Erfolg seine eigene Kunstweise einer älteren genähert und sich hinter die Maske Holbeins gesteckt hat. Die historischen Indicien verweisen uns, wie schon oben ausgeführt, auf die Niederlande und, genau betrachtet, auf die Jahre 1633-1638, in welch’ letzterem Jahre die Königin Maria Belgien verliess. In vollständiger Uebereinstimmung hiemit leitet uns die Analyse der Technik zu jener grossen Periode der niederländischen Malerei, welche ganz von dem Einfluss der Italiener beherrscht war und die italienische Kunstweise und Geschmacksrichtung in nicht sehr glücklicher Weise weiterbildete. Sie beginnt um die Mitte des 16. Jahrhunderts, bildet sich gegen das Ende desselben vollständig aus und lässt ihre vereinzelten Ausläufer bis gegen die Mitte des 17. in Belgien und, in einer geringeren Anzahl von Vertretern, auch in Holland verfolgen. In einem dieser äussersten Zweige muss der Maler unserer Copie gesucht werden.

Man hat schon manche Künstler jener Zeit genannt, ohne dass deren Kunstweise völlig zutreffend hätte gefunden werden können. Wenn ich diese Hypothesen um eine weitere vermehre, so geschieht es ohne jede Prätension oder Hoffnung auf Zustimmung seitens jener meiner Fachgenossen, denen mehr Erfahrung, eine reichere Gemäldekenntniss in Bezug auf jene Epoche zur Seite steht.

[who might have been the author of the Dresden picture: Abraham Bloemaert?]

Einige mir bekannt Historienbilder des Abraham Bloemaert, oder doch aus der ihn umgebenden ziemlich obscuren Malergruppe, zeigen eine Modellirung des Fleisches, welche wie nach einem stehenden Recept mit kalten grünlichen Halbtönen, braunen transparenten Schatten und warmen Reflexen hergestellt ist und im Princip mit der des Dresdener Bildes übereinstimmt. Diese Bilder können übrigens weder nach dem Grade der Ausführung noch nach den Grössenverhältnissen der Figuren günstige Vergleichsobjecte genannt werden. Bloemaert lebte zugleich mit Le Blond bis gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts in Amsterdam und stand, [p. 27] nach einigen Kupferstichadressen zu schliessen, mit ihm in geschäftlichem Verkehr. Er und sicher auch einige seiner Kunstgenossen, die letzten Vertreter des unerquicklichen, ausgearteten Italianismus in Holland, waren in vollem Besitze des technischen Geschicks, welches nöthig war, um eine Copie von der Qualität des Dresdener Bildes herstellen zu können. Ich weiss, diese meine Vermuthung hat, wenn man sich an Bloemaerts Bilder erinnert, im ersten Augenblicke etwas Befremdendes; aber man muss bedenken, dass das vorgelegte Original den Copisten zu einer Vertiefung im Colorit, zu einer Mässigung in Zeichnung und Körpersituation und zu einem Grade der Ausführung nöthigte, deren diese Künstler in ihren eigenen Bildern aus eigener Schöpferkraft nicht fähig waren. – Mit dieser Aufstellung möchte ich übrigens nur eine Anregung zu ferneren Untersuchungen unter günstigeren Verhältnissen, als mir gegönnt sind, gegeben haben, und bescheide mich gerne jeder besseren gegenüber.

[now on the compositional changes in the Dresden copy]

Zum Schluss bleibt mir noch übrig, die vielberufenen compositionellen Veränderungen auf der Copie zu betrachten. – Die Figuren der Madonna und des Bürgermeisters haben auf dem Originale unleugbar gedrückte, allzu gedrungene Verhältnisse. Der Copist, welcher sonst die einzelnen Partien des Bildes ganz mechanisch übergepaust hat, hat nun diesem Uebelstande dadurch abgeholfen, dass er in der Mitte des Bildes, in den Körpern der Madonna und des Bürgermeisters ein räumliches Einschiebsel gemacht hat, welches gerade über den gefalteten Händen des Mannes anhebt und in horizontaler Linie durch diese beiden Figuren geht. Da nun die besser proportionirte Frauengruppe auf der entgegengesetzten Seite fast keine Veränderung erlitten hat, so erklärt sich aus dieser Sachlage der Umstand, dass auf dem Original die Gruppe der männlichen Figuren niederer, auf der Copie dagegen höher als die der weiblichen sich darstellt, während der Ansatz von unten sich ziemlich in gleicher Linie hält. Ausserdem hat der Copist der Figur der Madonna die starke Ausladung der Hüfte, die Erbschaft des mittelalterlichen Geschmacks, genommen und, was nebensächlich ist, die weisse Kopfbedeckung der älteren Frau verkleinert. Diese Veränderungen, welche den Eindruck des Bildes wohlthuender und weihevoller gemacht haben, können nur glückliche genannt werden.

[…as for example on the oddity of the sixth finger in the Darmstadt picture: if Holbein copied his own original why should he have left the mistake in the original, while correcting it in the copy?]


On the left the sixth finger

[p. 28] Hier ist wohl auch der Ort, von der bekannten Merkwürdigkeit des sechsten Fingerchens zu reden:

»Im Darmstädter Exemplar hat das auf dem Boden stehende nackte Kind an der rechten Hand, welche, von vorn in halber Verkürzung gesehen, auf dem Aermel des knieenden Knaben aufliegt, sechs Finger (fünf ohne den Daumen), ein Fehler, der sich in diesem speciellen Falle leicht aus einem Versehen des Künstlers bei einem zweimaligen Arrangement der Gruppe erklären lässt. Im Dresdener Bilde, welches gerade diese Gruppe äusserst genau wiedergibt, fehlt der sechste Finger. Es liesse sich nun von Holbein mit Bestimmtheit annehmen, dass, wenn dieses Bild eine Wiederholung von seiner Hand wäre, er in dem Originale den Fehler beseitigt hätte, was mit einem Pinselstrich geschehen konnte.« [note: So unwichtig dieser Umstand auch im ersten Augenblicke erscheinen mag, so bildet er doch wegen des daraus zu ziehenden Schlusses eine Klippe, über welche die Vertheidiger der Copie nicht hinwegkommen können. Die Gruppe der beiden Knaben ist für die Wiederholung durchgepaust und bis in’s Kleinste genau copirt, aber ohne den sechsten Finger. Angenommen, dass Holbein selbst der Copist war, hätte er auf seinem Originale das Unding stehen lassen? – Merkwürdig ist und retrospectiv den Fehler erklärend, dass diese Abnormität, welche v. Zahn sogar copirt hat, ohne sich derselben bewusst zu werden, von Niemanden, auch wochenlang auf der Münchener Ausstellung von den dort versammelten Gelehrten und Kunstfreunden nicht, gefunden wurde. Ein Aufseher machte eines Tages die Beobachtung und theilte sie mir mit. Ich nach sie nebst der daraus gezogenen Schlussfolgerung in den Catalog auf, dem ich den obenstehenden Satz entlehnt habe. Prof. Felsing, der die Sache, wie seine Zeichnung beweist, längst gekannt haben musste, hatte sie nie Jemand mitgetheilt.]

Mit dem Darmstädter Bilde wird niemals die Abgötterei getrieben werden können, welche die Dresdener Copie erleben musste. Uebrigens soll auch nicht verschwiegen werden, dass das Bild noch in der Ascension Holbein’scher Kunst liegt und deshalb nicht nach dem trügerischen Nimbus verlangen darf, welchen das Dresdener Bild als das vermeintliche Meisterstück deutscher Kunstblüthe eben abgelegt hat.

Mit den aufgezählten Abänderungen hat sich aber der Copist nicht zufrieden gegeben; er hat auch die abschliessende architectonische Nische bedeutend erhöhnt und damit ihren Linienzug aus jenem logischen Zusammenhang mit der Figurencomposition gerissen, welcher mir als eine [p. 29] der werthvollsten Eigenschaften der Originalcomposition erscheint. Aus den von den Köpfen der Knieenden und von der Madonnenfigur auf beiden Seiten gebildeten Winkeln steigt dort die architectonische Umrahmung, anfangs in den Capitälen stark auslandend, auf, und in festem Anschlusse die Gruppe zusammenhaltend, nimmt sie dem pyramidalen Aufbau derstelben die mathematische Abstractheit und befriedigt dadurch in erhöhntem Grade das unbewusste Gefühl für Symmetrie und wohlthuendes Gegengewicht im Beschauer. Auf der Copie aber ist die Architectur als compositioneller Bestandtheil mehr oder minder zum indifferenten, wenn auch malerisch wirksameren Hintergrund geworden.

Hiemit enden unsere Beobachtungen und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen. – –

[and here begins the refutatio of the antagonist’s arguments]

Zu guter Letzt wende ich mich noch einmal zu unseren Gegnern, zu den Vertheidigern der Copie, einer Anzahl von meist Dresdener Künstlern, welche diese für eine originale Arbeit Holbeins, das Original dagegen für mindestens zweifelhaft erklärt haben. Ihre Gründe, die sie in vielen polemischen Schriften und Aufsätzen für ihre Ansicht beigebracht haben, sind leicht zu prüfen. Es sind im Wesentlichen drei Sätze, welche man in allen möglichen Variationen und Verbindungen zu hören bekommen hat und bekommt.

Der erste Satz lautet: »Das Dresdener Bild muss von Holbein sein; denn solche Verbesserungen können nur vom Meister selbst herrühren.« Ei, warum denn? Diese Verbesserungen, welche, nebenbei gesagt, die unendlich geringere Qualität der Malerei nicht zur Hälfte aufwiegen, bestehen, wie wir gesehen haben, aus einer effectvolleren Verwerthung des achtitectonischen Hintergrundes und einem wohlgefälligeren Arrangement der Gruppe. Sie sind nicht freie Uebertragungen einer schwungvolleren Stylistik, wie es von Holbein in dem angenommenen Falle zu erwarten wäre, sondern nachweisbar ohne wesentliche Veränderung des Bildes auf ganz gebundene und mechanische Weise vorgenommen und könnten von jedem der vielen guten Maler des 16. und 17. Jahrhunderts herrühren, ebenso wie sie heute noch einem Maler von Geschmack zuzutrauen wären. Sie entsprechen einem ausgebildeteren Renaissancegeschmack, dessen vulgären Schönheitsgefühle die freiere Anordnung mehr zusagte, als die etwas schwerfälligere Gewissenhaftigkeit vor der Natur und die trockene Solidität in der Composition des deutschen Bildes.

[p. 30] und angenommen diese Veränderungen stünden künstlerisch wirklich so hoch, dass sie nur von einem Meister herrühren könnten, warum muss dieser dann gerade Holbein sein? Oder spricht sich vielleicht in dieser geringen Verrückung der Figuren so unverkennbar und zwingend eine concret Holbein’sche Kunstweise aus, dass man nur an ihn und keinen Andern denken darf? Wer wagt es, auf diese Frage Ja zu sagen?

Der zweite Satz heisst: »Kein Copist würde sich solche Veränderungen erlaubt haben.« Auf solch einen nichtigen Einwand überhaupt zu antworten, kostet mich einige Ueberwindung. Spricht man eine haltlose, aber bestechend klingende Behauptung, wie diese, nur recht apodictisch aus, so bekommt sie vor dem grossen Publikum einen Schein von Plausibilität. Leider haben die Verbreiter dieses Satzes ihn nicht selbst erfunden, sondern aus der Literatur ihrer jetzigen Feinde entlehnt. Ich kann nur mit einer Antithese erwidern, aber mit einer beweisbaren: »Der Copist (zumal im 16. und 17. Jahrhundert) erlaubt sich Veränderungen, wie sie ihm gut dünken oder wie sie ein Besteller wünscht.« Der Belege für diese Regel gibt es viele Hunderte und ich brauche sie nicht aufzuzählen. Ich erinnere nur (ganz abgesehen von den wegen ihrer Beliebtheit vervielfältigten und variirten Bildern) an die vielen und guten von den Originalien mehr oder minder abweichenden Copien nach berühmten Gemälden grosser Meister, wie sie in allen Galerien vorkommen. Zu diesen wird von jetzt an auch die Holbein’sche Madonna in Dresden gehören. – Die dritte Phrase ist die von der »erhöhten Idealität.« Sofern dieser Satz nicht eine blosse Variation des ersten sein soll, verstehe ich ihn nicht ganz und kann eigentlich nicht darauf antworten. Wenn man, wie es hier geschehen ist, die unterscheidenden Merkmale der beiden nebeneinanderstehenden Bilder gewissenhaft bis ins Minutiöseste untersucht hat, so kann Einem die Idealität nicht wie Contrebande unter den Händen herübergeschlüpft sein, ohne dass man weiss, wo sise zu finden und wie sie bewerkstelligt ist. Das unbegreifliche intuitive Element im Kunstwerk kann auch nur durch Farbe und Zeichnung zum Ausdruck kommen. Liegt die »erhöhte Idealität« in der eleganteren Composition, so brauchen wir nicht weiter davon zu reden. Liegt sie aber in dem Ausdruck der Köpfe der Madonna und des Kindes, so dürfen wir mit Bestimmtheit annehmen, dass diese »Idealität« hier nur eine Copie des Originals und, analog zu [p. 31] schliessen, eine hinter demselben zurückbleibende Copie ist, die uns gegenwärtig bis zur Abnahme des Firnisses und der eventuell möglichen Abnahme der Uebermalung auf dem Originale als dessen Correctiv zu gelten hat.

Ausser solchen unstichhaltigen Redensarten und den schon oben behandelten Einwänden Jansen’s und Anderer haben die Anhänger der Dresdener Madonna bis jetzt nichts weiter zur Rechtfertigung ihrer Ansicht beizubringen vermocht. Wie hat die Kunstforschung sich gegen diese Herren die Arbeit sauer gemacht! Fast schämt man sich seiner deutschen Gründlichkeit und Vorsicht, wenn man sieht, wie leichthin diese Leute ihre Behauptung in die Welt geworfen, mit welch haltlosen Redensarten sie dieselbe gestützt haben. In ihre »Erklärung« haben sie auch gleich die Begründung mit aufgenommen, als ob das in fünf Zeilen endgültig abzumachen wäre.

Wir glaubten, die genaue und methodische Erkentniss Holbeinscher Artistik, aus des Meisters unbezweifelten Werken, die alle unter sich übereinstimmen, sich alle in der einen Individualität treffen, ausgezogen, und zu unumstösslichen Elementarbegriffen für die wissenschaftliche Beurtheilung fixirt, müsse der wichtigste Hebel sein, den man mit Aussicht auf einen positiven Erfolg hier anlegen könne. Die Frage war nach unserer Meinung eine schwierige und nur eine gelehrte, konnte nur mit dem schwer errungenen und fortwährend zu erringenden Material der gelehrten Kunstforschung in Angriff genommen und gelöst werden. Dabei waren archäologische, iconographische, culturgeschichtliche und archivalische Zwischenfragen zu erörtern, welche die Specialliteratur in kurzer Zeit mächtig anwachsen liessen. An dem endlichen Resultate hing das mühevolle und jahrelange Studium einer nicht grossen Zahl von Männern, denen die Kenntniss der Kunst- und Künstlergeschichte, die Analyse der Kunstwerke nach Geist und Technik, Entstehungszeit und Material neben der Pflege der erläuternden Hülfswissenschaften zur Lebensaufgabe geworden ist. Und nun kommen ein paar Dutzend Maler und Journalisten und affectiren, diesen ganzen schwierigen, selbst manchen Fachgelehrten nicht ganz geläufig gewordenen Apparat auch zu besitzen und erklären im Handumdrehen das Gegentheil von dem, was die Wissenschaft gefunden hat und begründen kann. Die subjective Ansicht will und kann die Wissenschaft, die sich lediglich selbst Zweck ist, deren instinktiver Drang nur auf die Ergründung der Wahrheit in jeder Form, vorerst ohne die [p. 32] Nebenabsicht der Belehrung, gerichtet ist, dem Laien nicht rauben. Wenn derselbe aber diese seine vielleicht richtige, von ihm als Laien jedoch nicht begründbare Ansicht vor aller Welt wie ein unerbittliches Resultat der Wissenschaft hinstellen will, muss er es sich nothwendigerweise gefallen lassen, wenn er gebildeten Menschen dünkelhaft erscheint. Und so wird es den Dresdener Malern, die in diesem Falle auch zu den Laien gehören, in nicht zu ferner Zeit ergehen. In welchem Lichte würde uns heute eine Gesellschaft von Bildhauern erscheinen, welche etwa vor mehreren Jahrzehnten, als die Archäologen zur Erkenntniss kamen, dass viele bis dorthin für griechische Originalien gehaltene Sculpturen römische Copien seien, die Erklärung abgegeben hätte, die berühmte Niobidengruppe in Florenz sei doch original, sie als Bildhauer müssten das am Besten verstehen, und die Wissenschaft irre; auch brauche man derselben nicht zu glauben, weil sie sich in ihrer Ansicht nicht consequent geblieben sei. Heute steht die damals erkannte Wahrheit unbezweifelt fest. Die öffentlichen Vertheidiger der Dresdener Copie mögen sich aus dieser und anderen leicht aufzufindenden Parallelen die Nutzanwendung ziehen. Als Maler brauchen sie (von vorneherein) von Kunstwissenschaft nicht mehr zu verstehen, wie etwa ein Stempelschneider von Numismatik, oder ein Kupferstecher von Peintregraveurkunde. Löblich ist es freilich und für sie als Künstler förderlich und wünschenswerth, wenn sie, wie es ja vorkommt, ein kunstgeschichtliches und ästhetisches Wissen und Sinn für wissenschaftliche Distinction besitzen. Dabei bietet ihnen noch die praktische Ausübung der Kunst für die Erfassung der Denkmäler nach ihrer mechanischen Entstehung eine wesentliche Erleichterung und macht denkende Künstler zu trefflichen Berathern der Kunstgeschichte. Als Künstler allein aber können sie in wissenschaftlichen Fragen nicht ernstlich entscheiden wollen. Sind sie also durch anderweitige Kenntnisse, die über ihre Geschäftssphäre hinausführen, zu einem Urtheile befähigt, so mögen sie es auch anders als mit blossen Redensarten begründen und als folgerichtigen Schluss einer systematischen, mit den klaren Mitteln des erworbenen Wissens geführten Untersuchung in logischer Durchführung nachweisen, da frühere Leistungen auf diesem Gebiete nicht vorliegen, die ihren Ansichten allein irgendein Gewicht verleihen könnten. Thun sie dieses nicht, so bleibt ihre Aufstellung eben nur eine beliebige Meinung, wie solche aus vagen und unklaren Vorstellungen [p. 33] hervorzugehen pflegen, – die Meinung von Männern, welche sich einer besseren Einsicht aus Unzulänglichkeit des kritischen Vermögens oder aus verblendeter Ueberhebung oder aus wenig ehrbarer Absicht entziehen. Aus den Schriften und Aufsätzen, welche einzelne Künstler zur Begründung ihrer Ansicht schrieben, ist keine andere Belehrung zu schöpfen, als die, dass der schrifstellerische Dilettantismus, der sich durch die naive Unüberlegtheit des Gedankeninhalts, durch seinen unerschrockenen Positivismus und die oratorische Scheinlogik stets eignet, das öffentliche Urtheil zu beeinflussen und der denkenen Wissenschaft den Boden streitig zu machen, der unheilvolle Feind aller wirklichen Bildung, des philosophischen Denkens und des historischen Erkennens ist. [note: Ich kann mich hier einer bitteren Bemerkung gegen Herrn Professor Fechner nicht entschlagen, der sich schon einigemale in dieser Frage als Stimmensammler an das grosse Publikum gewendet hat, gleich als ob eine Massenabstimmung der gebildeten Leute eine wissenschaftliche Streitfrage ihrer Lösung auch nur um ein Haarbreit näher bringen könnte. Durch blosses Registriren und Abzählen aller Ansichten, welche es den Leuten zu äussern oder in einer Zeitung zu schreiben beliebt, kann nur Verwirrung, Unklarheit und Verzögerung eines endgültigen Schlussergebnisses erzeugt werden. In der That hat Fechner’s ebenso treffliche als gewissenhaft den Stand der Sache darstellende Schrift: Ueber die Aechtheitsfrage der Holbein’schen Madonna (Leipzig 1871) statt der erwarteten Aufklärung, wozu sie ihrer Natur nach berufen gewesen wäre, nur Verwirrung hervorgerufen, weil sie die vielen widersprechenden Ansichten der Unberufenen wie der Berufenen in kritisch gleicher Werthschätzung neben einander aufführt. Man erstaunt nicht wenig, wenn man da z.B. die Ansichten des Raths Karl Förster und mancher Andern allen Ernstes discutirt und scheinbar als gleich wichtig wie die Ausführungen Kugler’s oder Waagen’s betont findet.]

Hiemit schliesse ich diese leidige Polemik, zu welcher ich mich ungern verstanden habe. Sie sollte nicht nur zum Zwecke haben, die gegnerischen schlecht gestützten Ansichten zu entkräften, was bei deren dilettantenhafter Fassung und Begründung wahrlich keine Mühe kostet, sondern sie sollte auch denkende Leser auf die Aschenbrödelstellung aufmerksam machen, welche die gelehrte Kunstforschung in Deutschand einzunehmen gezwungen ist. Obwohl die Literatur des Faches gegenwärtig in nie gesehener Blüthe steht und die Forschungen in der Culturgeschichte der letzten fünf Jahrhunderte von einem allgemeinen Interesse begleitet sind, wie es jetzt kaum eine andere gelehrte Disciplin von sich rühmen darf, so kann sich die moderne Kunstgeschichte doch an den deutschen Universitäten und Academien, wo [p. 34] die Pflege der klassischen Kunstgeschichte in hundertjähriger Würde thront, nur unter dem Titel der christlichen oder mittelalterlichen Archäologie als geduldete Wissenschaft einbürgern. Man verkennt dort immer noch die in der Stille herangewachsene Wissenschaft und verwechselt einerseits ihre philosophische Seite, dieses wenig bebaute Bergwerk voll edler Metalle, sofern sie Theorie, mit der ästhetischen Schönrednerei des pseudogelehrten Feuilletons, sofern sie Praxis, mit dem principienlosen Kritikenwesen der periodischen Presse; andererseits ihre zweite Hälfte, die geschichtliche Forschung, mit den dünnkritischen Compilationen und der literarischen Popularisirungssucht der modernen Ab- und Vielschreiber. [note: Es ist eine merkwürdige Erscheinung, dass man sich weder die herrschende Hegel’sche Aesthetik, die fast an allen Hochschulen gelehrt wird, noch das formalistische System Herbart’s als natürliche Zweige der Kunstwissenschaft, was sie doch so gut wie philosophische Disciplinen sein sollten, denken kann. Man irrt vielleicht nicht, wenn man annimmt, dass es der modernen Aesthetik an der Wurzel fehle, an einem Kriticismus, der mit einer durchgearbeiteten und möglichst subjectlosen Empirie, wie sie bislang nicht bestanden hatte, ausgerüstet, die elementaren Grundbedingungen des Kunstvermögens erforscht und die vorhandenen Axiome aufgedeckt hätte. Diese würden dann zwanglos die Halt- und Ausgangspunkte einer mit Leben begabten Kunstphilosophie werden. So aber haben wir eine Theorie der Kunst, welche mehr plausibel als wahr, mehr begriffliche Construction als das Ergebniss mühevoller Forschung ist. Der herrische Mechanismus der Hegel’schen Aesthetik, die auch bei mangelhafter empirischer Basis aus einer leitenden Idee weiterconstruiren darf, macht es möglich, dass man heutzutage ohne wahren Kunstsinn oder besondere Kunstkenntniss doch ein sattelfester Aesthetiker sein kann. Die bedeutenden Männer dieses Faches haben an zahllosen (besonders erläuternden) Stellen ihrer Werke ein grosses Kunstverständniss zur Genüge geoffenbart. Dass sie es aber nicht konnten ohne einen Zwiespalt zwischen theoretischer Einsicht und praktischem Urtheile fühlbar werden zu lassen, beweist gerade wie wenig im concreten Falle die fixirte wissenschaftliche Formen und der natürliche Kunstsinn Fühlung zu einander gewinnen können. Es ist hier nicht der Platz für weitergehende Erörterungen; ich wollte bloss auf die Thatsache hinweisen, dass die doctrinäre Aesthetik, sowohl der ausübenden Kunst als auch der Kunstforschung, die doch in kennerschaftlichen Fragen und Qualitätsbestimmungen gar nicht ohne principielle Erkenntnissmomente bestehen kann, verhältnissmässig fremd geblieben ist.] Nur an den polytechnischen und Kunstschulen hat die Kunstgeschichte Aufnahme gefunden; aber allerdings weniger als pflegebedürftige Wissenschaft, denn als leidlich luxuriöser Lehrgegenstand, welcher der deutschen Jugend zu ihrer schöngeistigen Bildung alle paar Jahre einmal vom Tubalkain bis Makart [p. 35] vorerzählt werden muss. – Von der Leitung und Berathung der meisten und gerade der hauptsächlichsten Kunstsammlungen ist die Wissenschaft ausgeschlossen und ihr so von vornherein der vornehmste Boden einer fruchtbaren Thätigkeit entzogen. Es ist ihr Schicksal, an diesen Anstalten, deren wahren Bildungszweck die wenigsten ihrer Vorstände anzugeben wissen, sich durchbetteln zu dürfen. So lange man an den deutschen Unterrichtsministerien in allen Fragen der Kunstwissenschaft, seien sie nun rein geschichtliche oder die Pflege der Denkmäler betreffende, jeden beliebigen Maler eher anhört als den Fachmann, so lange darf man sich nicht wundern, dass ein solcher Affront, wie der der Dresdener Maler, möglich war. [note: Seitdem Diess geschrieben wurde, haben sich die Verhältnisse in soferne gebessert, als man die lange vacanten Directorialstellen an der Berliner Galerie mit den erprobtesten Kräften der deutschen Kunstforschung besetzte und sowohl in Berlin wie in Wien nach dem Vorgange Dresdens einen Kunstgelehrten als Beirath in das Ministerium aufnahm. In München, das sich der bedeutendsten Sammlungen rühmen darf, hat man sich noch nicht zu dieser verständigen Selbstverleugnung erheben können.] Die lebhafte Empfindung dieser beschämenden Stellung der ehrlichen Wissenschaft gegenüber dem offiziell vertretenen Dilettantismus der Galeriecataloge war ein vorzüglicher Grund, dass man in der Madonnenfrage eine gemeinsame Erklärung, die als solche ihr Missliches hatte, zu veröffentlichen beschloss. Das Programm des für 1873 in Wien beabsichtigten Kunsthistoriker-Congresses wird voraussichtlich die Frage der socialen Stellung der deutschen Kunstforscher eingehend behandeln.

––––––

Ich bin am Ende dieser cursorischen Darstellung des Holbein-Streites angelangt. Möge es mir gelungen sein, dem gebildeten und vorurtheilsfreien Leser Sachlage und Verlauf der ganzen Frage nach Kräften klar und ohne Voreingenommenheit entwickelt zu haben. Ich habe mich auf das Wesentliche beschränkt und der Beziehung auf die vorhandene reiche Literatur, sowie kritischen und polemischen Excursen nur soweit Folge gegeben, als unumgänglich nöthig war, um die Klarheit in dieser nicht unverwickelten Sache aufrecht zu erhalten und den eingeschlagenen Weg der Beweisführung als den einzigen zu [p. 36] kennzeichnen, der zu einem positiven Ziele lenken konnte. Auf so engen Raum zusammengedrängt, soll dieses Schriftchen nur eine Skizze sein, welche im Umrisse zeigt, wie mit den gegebenen Thatsachen und stehenden Erkenntnissmitteln die Untersuchung geführt und das bekannte Resultat, dessen Rechtfertigung der Zweck dieser Arbeit war, erlangt worden sei.

Adolph Bayersdorfer.«


Aschenputtel (Aschenbrödel; Cinderella) by Val Prinsep

Commentary (DS):
›pictures/no pictures‹: no pictures of course in the brochure by Bayersdorfer; for those wanting to delve into the pictorial culture of the 19th century Holbein-Streit, do check the recent monograph by Lena Bader (Lena Bader, Bild-Prozesse im 19. Jahrhundert. Der Holbein-Streit und die Ursprünge der Kunstgeschichte, Paderborn 2013); what we are doing here is also meant as a kind of experiment: might it be possible to show and to understand what Bayersdorfer is saying on concepts of color and on pentimenti (and retouchings) by using the photographs available online?
rhetoric: the above text is also interesting in terms of its rhetorical structure and strategies, and thus an example of ›rhetoric of attribution‹ (›fast schämt man sich seiner deutschen Gründlichkeit‹);
Wikipedia: source of our pictures, thank you; but we might say also that the excellent German article on the Darmstadt picture presently neither makes mention of the seminal brochure nor of the above mentioned study by Bader;
›against the painters‹: Bayersdorfer who is speaking in the name of scientific connoisseurship against the dilettantism of intuitive opinion-giving can also be understood – today – as speaking against the discipline of art history and its neglect of attributional studies in general and of scientific standards therein (and generally in the field of connoisseurship) very in particular. He situates the discipline of art history at his day in a ›Aschenbrödelstellung‹; the same could be said, must be said of scientific connoisseurship – and I mean scientific connoisseurship – today.

(Source: Adolph Bayersdorfer, Der Holbein-Streit. Geschichtliche Skizze der Madonnenfrage und kritische Begründung der auf dem Holbein-Congress in Dresden abgegebenen Erklärung der Kunstforscher, Munich/Berlin 1872 [slight adjustments and printing errors corrected (I do not correct what seems old-fashioned, but what seems false to modern eyes); paragraph breaks, as always, added for technical reasons (so that images could be added)]; for Bayersdorfer see also Siegfried Käss, Der heimliche Kaiser der Kunst. Adolph Bayersdorfer, seine Freunde und seine Zeit, Munich 1987)

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Zuletzt geändert am 23 Oktober 2016 16:46 Uhr
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