M
I
C
R
O
S
T
O
R
Y

O
F

A
R
T





........................................................

NOW COMPLETED:

........................................................

MICROSTORY OF ART
ONLINE JOURNAL FOR ART, CONNOISSEURSHIP
AND CULTURAL JOURNALISM
........................................................

INDEX | PINBOARD | MICROSTORIES |
FEATURES | SPECIAL EDITIONS |
HISTORY AND THEORY OF ATTRIBUTION |
ETHNOGRAPHY OF CONNOISSEURSHIP |
SEARCH

........................................................

MICROSTORY OF ART
ONLINE JOURNAL FOR ART, CONNOISSEURSHIP
AND CULTURAL JOURNALISM
........................................................

***

ARCHIVE AND FURTHER PROJECTS

1) PRINT

***

2) E-PRODUCTIONS

........................................................

........................................................

........................................................

FORTHCOMING:

***

3) VARIA

........................................................

........................................................

........................................................

........................................................

........................................................

***

THE GIOVANNI MORELLI MONOGRAPH

........................................................

MICROSTORY OF ART
ONLINE JOURNAL FOR ART, CONNOISSEURSHIP AND CULTURAL JOURNALISM

HOME

MICROSTORY OF ART

MICROSTORY OF ART
ONLINE JOURNAL FOR ART, CONNOISSEURSHIP AND CULTURAL JOURNALISM


Begegnung auf dem Münsterplatz – reenacted





(Picture of Wölfflin: arthistoryresources.net; Münsterplatz: basler-bauten.ch)


Begegnung auf dem Münsterplatz – reenacted

Wir schreiben das Jahr 1882 und es ist Winter. Und in diesem Winter erklärte der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt dem jungen, noch ungefestigten Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin nichts weniger denn das Leben. Wie man das Leben meistern kann, genauer gesagt. Oder besser: In diesem Dezember gab der 64-jährige Jacob Burckhardt dem gerade 18-jährigen Heinrich Wölfflin denkwürdige Ratschläge mit auf den Weg, die dem jungen Wölfflin recht heftig, ja gleichsam betäubend um die Ohren klangen.
Und vielleicht waren das ja auch gar keine Ratschläge betreffend der Frage, wie man das Leben meistern kann und soll. Vielleicht waren das ja blosse Erfahrungswerte, die sich auf ein anderes Individum gar nicht würden übertragen lassen. Und sich zuletzt, in der Rückschau, dann nämlich, wenn es eigentlich zu spät ist, vielleicht gar als Ratschläge entpuppt haben würden (ohne dass Burckhardt dies gewollt, ja bloss vermutet haben würde), als Ratschläge nämlich, wie man im Leben am besten, am dramatischsten, am tragischten (wie der studierte Geisteswissenschafter weiss) scheitert.
Hören wir nochmals, was da gesagt, geplaudert (vielleicht auch gemurrt) worden ist. Nämlich im Dezember 1882, auf dem Basler Münsterplatz. Unter den Bäumen, im Licht zumindest einer aktenkundigen Laterne. Nachdem der »fatale Burckhardt« (Wölfflin) den jungen, noch ungefestigten Studenten mit knappen, kurz angebundenen, Baslerisch knurrigen, also eher gestischen Worten aus der Lesegesellschaft herausmanöwriert hatte. Um mit dem Studenten unter den Bäumen, und im Licht der Laternen auf und ab zu gehen und dergestalt den Weg zu weisen, ohne dass dem jungen Wölfflin viel dazu eingefallen sein mag (dem durchschnittlich ungefestigten Studenten der Geisteswissenschaften würden ja ohnehin die Worte fehlen).
Und wer nicht hören will, muss immerhin sehen, und auch fühlen. Denn wir wollen diese Begegnung einmal nachvollziehen, nachspielen, nachspielend zur Wiederaufführung bringen.
Aber was tun, wenn gerade kein Burckhardt, kein Wöllfflin zur Hand ist?
Dann müssen wir eben die beiden Rollen selber spielen und auch schreiben.
Wir schreiben das Jahr 2015, und es ist Sommer. Das passt uns gut. Denn auch sonst mag hier einiges verändert sein. Beziehungsweise verändert worden sein, und, wohlverstanden, noch verändert werden.
Und damit beides recht klar und deutlich herauskommt, geben wir auch gleich die Schilderung, die es uns erlaubt, in einer freien Version, auf die Begegnung auf dem Münsterplatz zurückzukommen. Diese Quelle ist ein Brief Wölfflins an seine Eltern, diese Quelle ist also Wölfflin selbst, dem (eben just dieser Quelle zufolge) der erfahrenere Burckhardt mit auf den Weg gegeben hat, die Quellen zu ehren (wir sind also doppelt abgesichtert, gleichsam historisch vertäut mit einem echt seemännischen Doppelknoten.
Doch was, wenn auch dies ganz anders geworden ist? Wenn sich da einiges nichts weniger denn gelockert hat?
Hier immerhin lässt sich jederzeit auch überprüfen, was genau sich hier vollzieht. An Veränderungen. Denn die Begegnung ist historisch. Und gewidmet sei sie, unsere Begegnung, unsere Version der Begegnung, der studentischen Musse (zum Beispiel auf der Lesegesellschaft) sowie der studentischen Renitenz, beziehungsweise Widerspenstig-, ja im Grunde Bockigkeit (Fotos: DS).




Basel, den 14. Dezember 1882.
…und heute noch die Begegnung mit Jacob Burckhardt.
Dies letzte ist für Euch wohl der interessanteste Punkt, für
mich aber ist es die Ursache meiner gegenwärtigen Verzweif-
lung. Mit Müh und Not hatte ich in den letzten Wochen mir
mein Lebensgebäude aufgerichtet, schön zum Himmel em-
porragend, und nun kommt dieser Mensch und reisst mirs
mit praktischen, prosaischen Reflexionen wieder zusammen.
Ich war auf der Lesegesellschaft, abends, auf einmal steht
neben mir das weisse Haupt, dem ich seit Deinem Briefe nie
mehr mit offenem Blick unter die Augen zu treten wagte, er
winkt mit einigen leise gemurmelten Worten, ich folge ins
nächste Zimmer – in die Garderobe – die Treppe hinab –
endlich auf dem Münsterplatz macht er Halt, und nun ent-
wickelt er mir kurz seine Ansicht, die ich jetzt nicht weiter
ausführen will. Die Hauptsache ist: »Verwenden Sie die
Hälfte Zeit auf die alten Sprachen, um jederzeit als Lehrer
sich die Befriedigung des vollbrachten Tagewerks verschaf-
fen zu können; die andere Hälfte auf die neuere Literatur:
französisch, italienisch und englisch. Erwerben Sie sich mög-
lichst viel Literaturkenntnis, lesen Sie jedes Buch ganz und
notieren Sie den Inhalt. Das Privatdozententum erstreckt
sich bis ins 30. Jahr und ist eine Reihe von Enttäuschungen;
Kulturgeschichte ist ein vager Begriff, jeder versteht darun-
ter etwas anderes. Gegenwärtig ist sie noch gar nichts. Nun
seien Sie fleissig, reisen Sie viel, um neue Anschauungen zu
bekommen, dann werden Sie, wenn sie einmal 4-6 Semester
hinter sich haben, von selbst in die richtigen Bahnen kom-
men. Jetzt sind Sie noch blutjung, wenn Sie die Sache sich
näher überlegt, haben wir vielleicht noch einmal Gelegen-
heit, darüber zu sprechen. Adieu!« Dies alles aber floss nicht
so rasch aus seinem Munde, wie sich’s hier liest, brocken-
weise musste ich mir’s zusammenlesen, während wir zwi-
schen den Bäumen auf und ab gingen und mein Begleiter alle
Augenblicke Halt machte. Ich werde diese Minuten nie ver-
gessen, da ich in solcher Weise diesem Manne gegenüber-
stand. Das Licht einer Laterne beleuchtete sein geistreiches
Gesicht, ich stellte mir sein ganzes Leben vor, das ewige
Schaffen und Suchen, und jetzt – seine weissen Haare deuten
darauf hin, dass der Zeitpunkt nicht mehr so ferne ist, wo die
ganze Summe seines geistigen Besitzes vernichtet werden
soll. Wozu?

[Fussnote von Joseph Gantner] In seinem Aufsatz zum 100.
Geburtstag Jacob Burckhardts hat Wölfflin 1918 den Inhalt dieses
Gesprächs, offenbar aus dem Gedächtnis, mitgeteilt (wiederabgedruckt
in den Gedanken zur Kunstgeschichte, 4. Auflage, Basel 1947, p. 156).
Folgende Aussprüche Burckhardts, die in dem Briefe an die Eltern
fehlen, gibt der genannte Aufsatz wieder: »Halten Sie sich
aber immer in erster Linie an die Quellen, es liegt ein besonderer
Segen darauf. Die Hauptsache im Leben ist die Befriedigung des
getanen Tagewerks. Man muss sein tägliches Pensum haben, um
zufrieden zu sein.«

(Quelle: Joseph Gantner (Hg.), Jacob Burckhardt und Heinrich Wölfflin.
Briefwechsel und andere Dokumente ihrer Begegnung 1882-1897
, Basel 1989,
p. 27f.)


›Lernen Sie Arabisch, Russisch, ja auch Chinesisch‹. Hatte dies der ehrwürdige, betagte, ja weise Jacob Burckhardt wirklich gesagt?
Und hinzugefügt: ›Die Geisteswissenschaften liegen darnieder, aber jederzeit werden Sie sich so die Befriedigung eines vollbrachten Tagewerks verschaffen können, und zwar bei einem belieben Geheimdienst der westlichen oder auch der östlichen Sphäre. Ja, auch deshalb empfiehlt es sich, viel zu reisen. Damit Sie Kontakte knüpfen können. Lesen Sie nicht, aber schauen Sie. Und zeigen Sie sich (aber nicht lesend).‹
Aber der 18-jährige Wölfflin, der sich als angehender Künstler sah, scharrte nur mit den Fussen im Kies und murrte innerlich. Das konnte doch nicht wahr sein. War es wirklich so weit gekommen mit den ehrwürdigen Geisteswissenschaften? Das ganze, an lichten Vormittagen in der Lesegesellschaft entwickelte Lebensprogramm drohte ihm einzustürzen. Standen Künste und Wissenschaften nicht kurz vor einer historischen Vereinigung. Und hier, auf dem Münsterplatz, in wenigen Meters Entfernung zur Galluspforte hörte man plane, prosaische, sogar etwas bürgerlich klingende Ratschläge.
Nur Minuten war es her, dass ihn der alte Burckhardt – ja, was machte er zu dieser Tageszeit, es war nämlich ein heller Morgen, ein Sommertag, der sich allmählich erhitzte – was hatte er zu dieser Tageszeit in der Lesegesellschaft zu schaffen. Hatte er ihn, den jungen Wölfflin, gleichsam abgepasst, bzw. abgefangen? Um ihn anzuwerben, ja einem anderen, nobleren Behufe gleichsam abspenstig zu machen?
Und nun wollte der junge, muntere und nicht wenig renitente Wölfflin doch auch einmal das Wort ergreifen. Es drängte ihn förmlich. Aber was sollte er sagen? Sollte er sich auf eine Diskussion einlassen über die Würde des Künstlertums und die Mission der Wissenschaften?
Nein, das würde er nicht tun, doch lieber nicht. Die Pläne mit denen er sich insgeheim trug, würde er nicht offenbaren, jedenfalls nicht hier, nicht jetzt, vorläufig nicht. Vielmehr juckte es ihn, eine Scheindiskussion, einen Streit, aber einen bloss inszenierten Streit bezüglich der Lage der Geisteswissenschaften vom Zaun zu brechen (denn im Grunde war er sich seiner Sache sicher). Aber was war das?
Seit einigen Minuten recht eigentlich mit den Füssen scharrend, war es ihm, als hätten seine Füsse unwillkürlich ein archäologisches Dokument ausgegraben. Lagen hier die Geisteswissenschaften begraben?
Und beide Männer, vielmehr, ein recht junger und ein schon betagter Mann griffen nun, im Einklang, nach dem Dokument, das sich urplötzlich in die Diskussion eingemischt hatte (und insgeheim teilten sie ja die archäologische Leidenschaft). Da war es nun, und mit einem Mal schien es beiden, als hätten die Geisteswissenschaften sich just in diesem Moment gleichsam verjüngt.





›Wie ich schon sagte‹, versetzte nun Burckhardt. ›Die Zukunft der Kulturgeschichte ist eine glänzende. Jetzt ist sie noch nichts, aber sie wird etwas sein. Zum Beispiel das hier. Sehen Sie, hier liegt die Zukunft begraben. Will sagen: gebiert sich neu. Ersteht neu: Nämlich als Kulturwissenschaft. Und Sie werden ihr erster Vertreter sein. Die Ehre gebührt Ihnen, denn sie haben die Kulturwissenschaft entdeckt. Sie ausgegraben. Ein kleiner Teil der Ehre gebührt auch mir, doch ich gebe nichts darauf.‹
Und diesen Unsinn fortzuspinnen schickte sich nun der junge Wölfflin an, zu seinem nicht unbeträchtlichen Vergnügen.
›Sie haben Recht‹, rief er aus (und wurde nun recht munter). ›Die Wissenschaft von den visuellen Dingen. Der Sport, das Spiel. Die Briefmarke. Die Reklame. Alles ist Bild. Alles fällt unter die Kompetenz des Kunsthistorikers, will sagen Kunstwissenschaftlers.‹
›Ja, ja‹, nickte der alte Burckhardt. ›Ziehen Sie die Fäden, den Netzwerken gehört die Zukunft, aber vertäuen Sie die neue Kulturgeschichte auch, wie die alte, in den Quellen. Wie ich schon sagte, Sie müssen das alles erst begründen. Kulturgeschichte ist nichts, aber sie wird etwas sein. Die Wissenschaft vom Bild. Aber achten Sie darauf, dass die Historie nicht verlustig geht. Die Wissenschaft, wenn Sie das Neue fördert, vergisst gerne das Alte (man hat das vielfach gesehen). Den Staat, die Politik, verstehen sie. Nichts weniger als die Religion.‹
›Die Ökonomie‹, versetzte der junge Wölfflin nun forsch und etwas frech (aber mit innerem Vergnügen).
›Auch das, auch das. Wenn es sich schickt.
Aber nun fort, fort. Und achten Sie darauf. Lesen sie, aber zeigen sie sich nicht lesend. Sondern nur schauend. Das macht mehr Eindruck. Wenn man Sie etwas fragt, sagen sie erst nichts und lachen dann kurz höhnisch auf, über die Frage. Das macht am meisten Eindruck. Und sie werden sehen. Manches Tagewerk, wenn sie dann Professor sind, wird auf Ihren Schultern lasten, das Mehrfache eines Tagewerks täglich. Denn sie müssen die neue Wissenschaft ja auch verwalten. Das macht sie nicht von selbst. Ihre Künstlerträume werden sie freilich begraben müssen. Das macht aber nichts. Nur frisch ans Werk und nicht gemurrt. Und nun Adieu!‹

›Ich werde Sie leben, die Träume‹, sagte sich der junge Wölfflin trotzig, derweil der weise alte Burckhardt wieder seines Weges ging. ›Und nur zum Schein werde ich Wissenschaft betreiben, die äussere Hülle meines Künstlertums wird die Wissenschaft der Form sein. Und diesen Unsinn, von wegen Neue Kulturgeschichte, werden wir hier mit einer neuen Schicht trefflichen Kieses bedecken und wieder begraben.‹

MICROSTORY OF ART
ONLINE JOURNAL FOR ART, CONNOISSEURSHIP AND CULTURAL JOURNALISM

HOME


Top of the page

Microstory of Art Main Index

Dietrich Seybold Homepage


© DS

Zuletzt geändert am 08 Juli 2015 08:19 Uhr
Bearbeiten - Druckansicht

Login